21. Januar 2020

Mitten in Venedig

Unterwegs in der Serenissima

Mit Fotoapparat und Schädel eintauchen in Venedigs Magie der Geschichte und Kunst vom Tourismus umgeben

Wie immer zieht Winfried Muthesius schwer bepackt los. Diesmal kommt er mit zwei jungen Italienern auf einem Boot über den Rio dei Palazzo. An der Rückseite des Dogenpalastes angekommen, hieven sie gemeinsam das Schädelbild hinaus und lehnen es an eine Mauer. Über dem Schädel erkennt man die Seufzerbrücke, die direkt ins Gefängnis von Venedig führt. Für die Verurteilten war hier nichts mehr von „Serenissima“, von der „Unbeschwertheit und Heiterkeit“ der Stadt zu spüren. Die Ponte dei Sospiri führte sie ohne Umwege in ihre düsterdunklen Zellen. An der Unterseite des Schädelbildes spielen die gegenüberliegenden Arkaden  mit dem Licht und werfen ihre Schatten auf das Ölgemälde. So fügen sie ihre eigene Zeichnung hinzu, die sich auf dem Steinboden des Weges am Rio Canonica o Palazzo entlang zur Uferpromenade entfaltet.

Dann tragen die Männer das schwere Schädelbild in Überlebensgröße durch das Zentrum der Lagunenstadt. Eigentlich müssten die Menschen sich über den seltsamen Trupp mit Bild wundern.

Doch zwischen all den Touristen, die über die Brücke schlendern oder geschäftig nach dem nächsten Hotspot suchen, fällt der mit schwarzer Ölfarbe abstrahierte Schädel eines Pogrom-Opfers nur peripher ins Gewicht.

Doch einem alten einheimischen Ehepaar, das dem Künstler Hand in Hand entgegenkommt, scheint die Sache nicht geheuer: Die Frau zieht ihren Mann mit Verve vom Geschehen weg.

Die Diskrepanz des abstrakten Schwarz-Weiß-Gemäldes zur überaus reich mit Marmor geschmückten Fassade des Doms, deren antike Säulen, Skulpturen und Mosaiken ahnen lassen, warum dieses imposante Bauwerk bis Ende des 18. Jahrhunderts zentrales Staatsheiligtum der Republik Venedig war, könnte nicht größer sein.

Winfried Muthesius nimmt beides ins Visier, als er den Fotoapparat auspackt. Er fokussiert aus allen Perspektiven, wählt Close-Ups und Weitwinkel, spielt mit Licht und Schatten, mit den Passanten, die vorübereilen oder mit offenen Mündern vor den Sehenswürdigkeiten stehen bleiben, um den Dialog der Widersprüche so richtig in Gang zu setzen.

Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont abgetaucht. Die alten Laternen werfen ihre langen Schatten. Da beginnt Muthesius erneut einen Standort für sein Bild auszusuchen.

Auf der Piazza San Marco, die sich über knapp 200 Meter Länge und 80 Meter Breite erstreckt, umrahmt von prächtigen Bauwerken, lehnt der Schädel nüchtern an den Säulen der dortigen Arkaden. Schaut man auf ihn, sieht man im Hintergrund den Markusdom, die Basilica San Marco, aufragen.

Die Fotoserie, die in Venedig entstanden ist, ist nur ein Zwischenschritt für Muthesius‘ nächste Kunstwerke. Er wird sich dieser Stadt mit Hilfe der Abzüge neu widmen. Aktuelle Herausforderungen, die Venedig und Italien beherrschen, wirbeln den romantischen Zauber der Stadt, in der Wasserstraßen die Quartiere verbinden, keine Autos fahren und prächtige Palazzi die Wege säumen, heftig durcheinander. Doch gerade das wird hineingenommen, wenn er die Fotos mit kräftigem Pinselstrich weiterbearbeitet, um neue pittura oscura entstehen zu lassen. Kunstwerke, auf die wir gespannt sein dürfen!